Aktuelle Erkenntnisse: Cochlea-Implantate und einseitige Taubheit (SSD)
Weltweit erhalten immer mehr Kinder und Erwachsene mit einseitiger Taubheit (Single-Sided Deafness, SSD) ein Cochlea-Implantat. Aber wie sieht eigentlich die aktuelle Forschungslage zu diesem Thema aus? Wir haben für Sie eine kleine Auswahl an neueren Studien rund um das Thema „Cochlea-Implantate und einseitige Taubheit“ zusammengestellt und präsentieren deren wichtigste Erkenntnisse jeweils in einer kurzen Zusammenfassung.
Einseitige Taubheit (SSD) und Cochlea-Implantate: Zentrale Erkenntnisse
Menschen mit einseitiger Taubheit erfahren durch das CI eine deutliche und langfristige Verbesserungen ihres Richtungshörens.[9]
So kamen Thompson et al. (2022) in ihrer Langzeitstudie zum Ergebnis, dass sich die Fähigkeit erwachsener SSD-Patient*innen, die Quelle eines Geräuschs zu lokalisieren, bereits in den ersten Wochen nach der Aktivierung des Implantats deutlich steigerte. Die signifikante Verbesserung des Lokalisationsvermögens war von Dauer und konnte im Rahmen der Studie auch ein Jahr nach der Aktivierung nachgewiesen werden. Ein erneuter Test zeigte fünf Jahre nach der Aktivierung noch bessere Resultate in Bezug auf die Genauigkeit der Lokalisation. Die Studie inkludierte elf einseitig gehörlose Personen.
Die CI-Versorgung bringt Kindern mit SSD einen klinischen relevanten Nutzen.[5,2]
Sowohl Park et al. (2021) als auch Brown et al. (2022) befassten sich wissenschaftlich mit der CI-Versorgung von Kindern mit angeborener oder erworbener einseitiger Taubheit. Endpunkte der Studien: Ein Jahr nach der CI-Aktivierung zeigten die Proband*innen deutliche Verbesserungen in der Sprachwahrnehmung im Störschall quer durch sämtliche gemessene binaurale Effekte, einschließlich Kopfschatteneffekt, binaurale Summation, Squelch-Effekt und räumliche Demaskierung. Signifikante, klinisch relevante Verbesserungen ließen sich auch in Bezug auf Lokalisation, subjektive Hörresultate und die subjektive Höranstrengung – erhoben mittels SSQ-Fragebogen – feststellen.
Die Tatsache, dass eine erwachsene Person bereits sehr lange einseitig gehörlos ist, sollte kein Ausschlussgrund für eine CI-Versorgung sein.[3,4,7]
Rader et al. (2022) untersuchten, wie sich die Dauer der einseitigen Taubheit von Erwachsenen auf deren Sprachwahrnehmung nach der CI-Versorgung auswirkt. Zwar zeigte sich in dieser retrospektiven Studie eine Korrelation zwischen der Dauer der Gehörlosigkeit und den objektiven Messergebnissen (gemessen 12-36 Monate nach der CI-Aktivierung): Jene Proband*innen, die vor der Implantation länger als 400 Monate (ca. 33 Jahre) gehörlos gewesen waren, wiesen tendenziell schlechtere Resultate auf. Dennoch wurden durch die Implantation positive Effekte erzielt.
Die Studienautoren betonen, dass eine erfolgreiche Hörrehabilitation auch für derart lange gehörlos gewesene Menschen sinnvoll und erfolgreich sein kann, wenngleich sie an gewisse Grenzen stößt. Wichtig sei überdies, dass diese Grenzen nicht allein in der langen Dauer des Hörverlusts begründet lägen – andere Faktoren wie das Patientenalter oder die Ätiologie des Hörverlusts spielen ebenso eine Rolle. Als Conclusio formulieren Rader et al., dass die lange Dauer der Taubheit vor der Implantation allein keine Kontraindikation für eine CI-Versorgung sei. Generell sei noch nicht geklärt, anhand welcher präoperativen Faktoren sich im Einzelfall präzise Vorhersagen für das postoperative Sprachverständnis eines SSD-Patienten treffen lassen.
Die Dauer der Gehörlosigkeit ist wahrscheinlich kein unabhängiger negativer prädiktiver Faktor und sollte daher nicht generell als Kontraindikation angesehen werden. (nach Rader et al. 2022)
Eine ähnliche Studie von Nassiri et al. (2022) verglich die Sprachwahrnehmung von (vor der Implantation) länger bzw. kürzer als 10 Jahre gehörlos gewesenen Patient*innen miteinander. Fazit: Es gab – gemessen ca. ein Jahr nach der Implantation – keine signifikanten Unterschiede.
In ihrer Übersicht zur aktuellen Forschungslage kommen Dillon et al. (2022) zu dem Schluss, dass sich das Hörresultat von erwachsenen CI-Nutzer*innen mit erworbener einseitiger Taubheit aufgrund der Auswirkungen des langen monauralen Hörens auf die Hörbahnen vom Hörresultat Erwachsener mit angeborener SSD unterscheiden kann. Sie konstatieren zugleich, dass in dieser Frage weitere Forschung erforderlich sei.
Erwartungsmanagement und Hörtraining sind wichtig für den größtmöglichen Nutzen eines Cochlea-Implantats.[3]
In einer Publikation aus dem Jahr 2022 formulierten Dillon et al. auf Basis wissenschaftlicher Evidenz 16 Leitlinien für die klinische Beurteilung und Durchführung der CI-Versorgung Erwachsener mit einseitiger Taubheit. Park et al. (2022) verfassten klinische Leitlinien zu Indikationskriterien und Behandlung pädiatrischer CI-Kandidat*innen mit einseitiger Taubheit. Zusammen ergeben die Veröffentlichungen von Dillon et al. (2022), Park et al. (2022) und Távora-Vieira et al. (2020) einen umfassenden Überblick über die empfohlene Behandlung einseitig gehörloser Menschen. Die Empfehlungen befassen sich unter anderem mit Erwartungsmanagement als Teil der medizinischen Aufklärung und Beratung im Vorfeld einer möglichen CI-Versorgung: Eine realistische Vorab-Einschätzung der CI-Nutzung im Alltag könne später den individuellen Benefit durch das Implantat erhöhen. Wichtig sei zudem ein systematisches Hörtraining für das CI-Ohr.
Tonotope Diskrepanz der Stimulation kann die binaurale Verarbeitung und das räumliche Hören beeinträchtigen.[1]
Bernstein et al. (2021) untersuchten drei Messgrößen interauraler Diskrepanz bei 19 bilateralen CI-Nutzer*innen und 23 SSD-CI-Nutzer*innen. Die Studie ging der Frage nach, inwieweit neurale Strukturen in der Lage sind, sich mit der Zeit zu reorganisieren, um eine interaurale Nichtüberstimmung der Stimulationsorte ausgleichen zu können. Obwohl in beiden Gruppen jeweils ähnliche Diskrepanzen im tonotopen Abgleich durch den Elektrodenträger vorlagen, kam es lediglich bei den SSD-Patient*innen zu einer häufigen interauralen Nichtübereinstimmung. Die Studienautoren führen das darauf zurück, dass bilaterale Nutzer*innen ein symmetrischeres Signal zu verarbeiten haben. Bei ihnen erfolgt der interaurale Abgleich ausschließlich zwischen den beiden Elektrodenpositionen, während er bei SSD-Patient*innen zwischen Elektrodenposition und natürlicher Cochlea-Tonotopie erfolgt.
Beide Patientengruppen zeigten die beste binaurale Empfindlichkeit für interaurale Zeitunterschiede, wenn in beiden Ohren die gleichen Cochlea-Areale stimuliert wurden. Daraus schließen die Autoren, dass sich der Verarbeitungsprozess im Hirnstamm nicht ausreichend adaptieren kann, um die interaurale Differenz auszugleichen. Rein interaural tonhöhenangepasste Elektrodenträger wichen im CT stark von der vermuteten Position in der Cochlea ab und trugen somit nicht zur Optimierung der binauralen Empfindlichkeit bei. Um SSD-Patient*innen ein möglichst gutes binaurales und damit räumliches Hören zu liefern, sollte die audiologische Anpassung nicht rein tonhöhenbasiert, sondern auf Basis von CT-Bildgebung erfolgen, so die Autoren.
Ein großes Dankeschön für die Arbeit am englischen Originalartikel, der dieser deutschsprachigen Version zugrunde liegt, geht an Reinhold Schatzer (Sound Coding, R&D Signal Processing & Fitting – MED-EL) und Natalie Teakle (Rehabilitation – MED-EL).
Aus der Praxis: Erhalten Erwachsene mit einseitiger Taubheit ADHEAR, eine BONEBRIDGE oder doch ein CI?
Wissenswertes zu bewährten Verfahren in der Versorgung und Rehabilitation Erwachsener mit SSD erfahren Sie in diesem ExpertsONLINE Video: Prof. Paul Van de Heyning, Prof. Piotr Henryk Skarżyński und Severin Fürhapter von MED-EL VIBRANT erörtern die Mindeststandards, die in Implantat-Kliniken im Hinblick auf eine optimale SSD-Versorgung etabliert werden sollten, und vergleichen die vier wichtigsten Lösungen – CROS-Hörgeräte, CI, ADHEAR und BONEBRIDGE.
Zum Weiterlesen: SSD und Cochlea-Implantate
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MED-EL Blogartikel zum Thema:
- Binaurales Hören: Cochlea-Implantate bei einseitiger Taubheit
- 5 Jahre ADHEAR: Vielseitig einsetzbares Knochenleitungssystem ohne Operation (Knochenleitung bei SSD)
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Referenzen
- Bernstein, J. G., Jensen, K. K., Stakhovskaya, O. A., Noble, J. H., Hoa, M., Kim, H. J., Shih, R., Kolberg, E., Cleary, M., & Goupell, M. J. (2021). Interaural Place-of-Stimulation Mismatch Estimates Using CT Scans and Binaural Perception, But Not Pitch, Are Consistent in Cochlear-Implant Users. The Journal of Neuroscience, 41(49), 10161–10178. https://doi.org/10.1523/jneurosci.0359-21.2021
- Brown, K.D., Dillon, M.T. and Park, L.R. (2022), Benefits of Cochlear Implantation in Childhood Unilateral Hearing Loss (CUHL Trial). The Laryngoscope, 132: S1-S18. https://doi.org/10.1002/lary.29853
- Dillon, M. T., Kocharyan, A., Daher, G. S., Carlson, M. L., Shapiro, W. H., Snapp, H. A., & Firszt, J. B. (2022). American Cochlear Implant Alliance Task Force Guidelines for Clinical Assessment and Management of Adult Cochlear Implantation for Single-Sided Deafness. Ear & Hearing., 37(3), 1605–1619. https://doi.org/10.1097/aud.0000000000001260
- Nassiri, A. M., Wallerius, K. P., Saoji, A. A., Neff, B. A., Driscoll, C. L. W., & Carlson, M. L. (2022). Impact of Duration of Deafness on Speech Perception in Single-Sided Deafness Cochlear Implantation in Adults. Otology & Neurotology, 43(1), e45–e49. https://doi.org/10.1097/mao.0000000000003357
- Park, L. R., Dillon, M. T., Buss, E., O’Connell, B. P., & Brown, K. D. (2021). Spatial Release From Masking in Pediatric Cochlear Implant Recipients With Single-Sided Deafness. American Journal of Audiology, 30(2), 443–451. https://doi.org/10.1044/2020_aja-20-00119
- Park, L. R., Griffin, A. M., Sladen, D. P., Neumann, S., & Young, N. M. (2022). American Cochlear Implant Alliance Task Force Guidelines for Clinical Assessment and Management of Cochlear Implantation in Children With Single-Sided Deafness. Ear & Hearing, 43(2), 255–267. https://doi.org/10.1097/aud.0000000000001204
- Rader, T., Waleka, O. J., Strieth, S., Eichhorn, K. W. G., Bohnert, A., Koutsimpelas, D., Matthias, C., & Ernst, B. P. (2022). Hearing rehabilitation for unilateral deafness using a cochlear implant: the influence of the subjective duration of deafness on speech intelligibility. European Archives of Oto-Rhino-Laryngology, 280(2), 651–659. https://doi.org/10.1007/s00405-022-07531-3
- Távora-Vieira, D., Rajan, G., Van de Heyning, P., & Mertens, G. (2020). Quality standards for adult cochlear implantation in single-sided deafness and asymmetric hearing loss. B-ENT, 16(4), 209–216. https://doi.org/10.5152/b-ent.2021.20172
- Thompson, N. J., Dillon, M. T., Buss, E., Rooth, M. A., Richter, M. E., Pillsbury, H. C., & Brown, K. D. (2022). Long‐Term Improvement in Localization for Cochlear Implant Users with Single‐Sided Deafness. The Laryngoscope, 132(12), 2453–2458. https://doi.org/10.1002/lary.30065
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