Anatomiebasierte Anpassung zur verbesserten Übereinstimmung von Tonhöhe und Stimulationsort
Jeder weiß, wie schwierig es sein kann, einen bequemen, perfekt sitzenden Schuh zu finden. Alle Schuhe, die man probiert, fühlen sich anders an. Und was einem schließlich passt, kann für jemand anderen mit der gleichen Schuhgröße die völlig falsche Wahl sein. Auch die menschliche Cochlea unterscheidet sich von Mensch zu Mensch – noch viel stärker als das bei den Füßen der Fall ist. Und nachdem jede Cochlea individuell ist, muss auch jedes Cochlea-Implantat individuell eingestellt sein, um perfekt zu passen. Das betrifft die präoperative Elektrodenwahl genauso wie die postoperative Feinabstimmung der elektrischen Stimulation durch die Elektrode.
Anatomiebasierte Anpassung ist als wichtige Teilfunktion der MAESTRO Software zur möglichst natürlichen tonotopen Frequenzstimulation in der Cochlea noch recht neu auf dem Markt. Sie markiert einen weiteren zentralen Schritt auf dem Weg zu einer möglichst naturgetreuen Klangvermittlung durch das CI. Erstmals in MAESTRO 9.0 verfügbar, erlaubt die Anatomiebasierte Anpassung (ABF), eine größtmögliche Übereinstimmung von audiologischem Hörprogramm und individuell unterschiedlicher Cochlea-Tonotopie zu erzielen.
Gelingen kann das nur mit der richtigen Elektrodenlänge in Kombination mit der individuellen Feinabstimmung deren elektrischer Stimulation. Um in der Ausgangsmetapher dieses Artikels zu bleiben: Auch ein Schuh in der richtigen Größe lässt sich zusätzlich anpassen, um an manchen Stellen noch besser zu sitzen. Ist er aber von Vornherein drei Nummern zu klein oder zu groß, werden auch die bemühtesten Anpassversuche kaum Verbesserungen bringen.
Nachdem wir die anatomiebasierte Anpassung mittels MAESTRO 9 mehr als ein Jahr lang im klinischen Feld erproben konnten, möchten wir einige Erkenntnisse aus der Praxis mit Ihnen teilen.
Anatomiebasierte Anpassung: Das Funktionsprinzip
Genau dafür gibt es die anatomiebasierte Anpassung: Timing und Ort der Stimulation sollen für jede einzelne Frequenz so exakt getroffen werden, wie das beim normalen Hören der Fall ist.
Durch den Import postoperativer CT-Bilder aus OTOPLAN in MAESTRO 9 lassen sich auf Basis der tatsächlichen anatomischen Lokalisierung jedes einzelnen Elektrodenkontakts patientenspezifische Mittenfrequenzen zuweisen.* Auf diese Weise folgt die Stimulation der anatomischen, natürlichen Cochlea-Tonotopie.
Insertionstiefe, Insertionswinkel und tonotope Frequenz
Die Stärke der Modifikationen an den Frequenzbändern hängt von der Insertionstiefe des Elektrodenträgers ab.
Insertionstiefe (in mm), Insertionswinkel (in Grad) und Frequenzabdeckung (in Hz) sind miteinander verknüpft. Insertionswinkel und Frequenz korrelieren üblicherweise: In einer durchschnittlichen Cochlea entspricht ein Winkel von 630° in etwa einer Frequenz von 185 Hz (Corti-Organ). Somit lässt sich sich vom Insertionswinkel eines bestimmten Elektrodenkontakts auf die tonotope Frequenz schließen.
Nachdem der Ductus jeder Cochlea unterschiedlich ist und sich deren Größen zum Teil massiv unterscheiden, bietet MED-EL eine Vielzahl an unterschiedlichen Elektrodenlängen. Eine FLEX28 Elektrode mag in einer kleineren Cochlea mehr als 630° tief zu liegen kommen, in einer größeren Cochlea hingegen möglicherweise nur 540° oder sogar noch weniger. Naturgemäß reichen längere Elektrodenträger weiter in die Cochlea, was insgesamt eine naturgetreue Tonhöhenwiedergabe unterstützt. [1,2,3]
MED-EL verfolgt die Philosophie einer möglichst vollständigen Abdeckung aller Frequenzen. Voraussetzung dafür ist eine angulare Insertionstiefe von 540° (1,5 Windungen) bis 720° (zwei Windungen). Ab einer Tiefe von 630° sorgt die anatomiebasierte Anpassung potentiell für ein noch exakteres und ausgeglicheneres Hörprogramm. Wird postoperativ eine anatomiebasierte Anpassung angestrebt, ist die präoperative Planung und Elektrodenwahl also umso wichtiger.
Hinweis: In Folgenden wird der Effekt der anatomiebasierten Anpassung auf die Filterbänder als Funktion der Frequenz der apikalsten Elektrode (E1) erläutert, die primär von der Insertionstiefe des Elektrodenträgers abhängt. Alle Frequenzen liegen gemäß der OTOPLAN Darstellung auf Höhe des Corti-Organs.
Durchschnittliche Insertion (630°, ca. 185 Hz)
Die Standard-Frequenzbänder korrespondieren im Allgemeinen gut mit der natürlichen Tonotopizität für das E1 bei etwa 185 Hz, was wie erwähnt einer angularen Insertionstiefe von 630° entspricht. Diese lässt sich üblicherweise mit STANDARD und FLEXSOFT Elektroden erreichen, in kleinen Cochleae fallweise auch mit FLEX28 Elektroden. Tabelle 2 zeigt eine leichte Abweichung zwischen Standard- und anatomisch angepassten Frequenzbändern für E1 bei etwa 185 Hz. Die stimulierten Frequenzen entsprechen in diesem Fall über den Großteil des Elektrodenträgers hinweg der natürlichen Tonotopie. Die Frequenzen werden ideal auf die unterschiedlichen Kanäle verteilt. So lässt sich die Stimulation auf die gesamte Länge des Elektrodenträgers aufteilen, ohne dass sich zu viele Frequenzen einen Elektrodenkontakt „teilen“ müssen.
Tiefe Insertion: Stimulation der gesamten Cochlea (720°, ca. 100 Hz)
Die langen FLEXSOFT und STANDARD Elektrodenträger erlauben in den meisten Fällen eine Abdeckung und damit Stimulation der gesamten Cochlea. Sie erreichen eine E1 Frequenz von 100 Hz oder darunter (das entspricht einem Insertionswinkel von 720° oder mehr). Wie Tabelle 3 zeigt, verschiebt ABF manche Frequenzen basal (verglichen mit den Standard-Filterbändern). Hier sind die Auswirkungen der anatomiebasierten Anpassung am deutlichsten zu sehen. Da die Frequenzen über die gesamte Cochlea sowie den gesamten Elektrodenträger verteilt sind, lässt sich diese Elektrodenposition als optimal annehmen.
Einführtiefe von 1,5 Windungen (540°, ca. 340 Hz)
Cochleae weisen eine breite Varianz an unterschiedlichen Längen auf. In einer relativ kleinen Cochlea kann etwa eine FLEX28 Elektrode bereits volle Abdeckung liefern. Die durchschnittliche Cochlea lässt sich mit so einer Elektrode allerdings nicht über ihre volle Länge stimulieren. Das Ergebnis ist häufig eine E1 Frequenz von ungefähr 340 Hz (1,5 Windungen, 540°).
Bei einer solchen Insertion führt ABF zu einer leichten apikalen Frequenzverschiebung. Ein breiterer Frequenzbereich wird so auf den apikalen Kanälen zusammengedrängt, um tonotope Elektrodenfrequenzen im für das Sprachverständnis zentralen Bereich zwischen 950 und 3.000 Hz zu erreichen.
Flache Insertion (<540°, <340 Hz)
Die FLEX26 und FLEX24 Elektrodenträger stimulieren üblicherweise weniger als die ersten 1,5 Cochlea-Windungen (weniger als 340 Hz). Bei einer derart flachen Insertion kommt es zu einer deutlichen apikalen Frequenzverschiebung. Ein erheblicher Frequenzbereich wird dadurch in den apikalen Kanälen zusammengedrückt. Damit ABF zur Anwendung kommen kommen kann, müssen mindestens 2 Elektrodenkontakte unter 950 Hz sowie mindestens zwei zwischen 950 und 3.000 Hz liegen. Mit FLEX20 Elektroden zum Beispiel steht ABF in MAESTRO nicht zur Verfügung (weniger als eine Windung bzw. 930 Hz).
ABF und Kodierungsstrategien:
ABF sollte idealerweise in Verbindung mit FineHearing Kodierungsstrategien verwendet werden (FSP, FS4, FS4-p). Diese reichen standardmäßig auch in die niedrigen Frequenzen. Mehr über FineHearing erfahren Sie hier.
Anatomiebasierte Anpassung: Ein weiterer Schritt zur Verbesserung des Hörens
Anatomiebasierte Anpassung kann zu einem besseren Hörresultat beitragen. Wenngleich die Forschung in Bezug auf individualisierte CI-Versorgung und ABF noch ziemlich am Beginn steht, lassen sich doch bereits einige interessante Beobachtungen machen, die in folgenden Empfehlungen münden:
- Grundvoraussetzung ist die Wahl der richtigen Elektrodenlänge. Hierbei kann OTOPLAN hilfreich sein. Eine tiefe Insertion samt vollständiger Abdeckung der Cochlea unterstützt das Ergebnis der anatomiebasierten Anpassung. Dementsprechend eignen sich die FLEXSOFT, STANDARD und in speziellen Fällen auch die FLEX28 Elektrodenträger am besten für die anatomiebasierte Anpassung. In Kombination mit kurzen, wenig tief eingeführten Elektrodenträgern kann ABF hingegen einen dumpfen und/oder zu tiefen Klang herbeiführen.
- Nach der Implantation und vor der Anwendung von ABF ist ein CT-Scan erforderlich. Ein postoperativer CT-Scan mag nicht in jeder Implantationsklinik zur Routine gehören, lohnt sich aber mit Blick auf den potentiellen Nutzen der anatomiebasierten Anpassung jedenfalls.
- Allgemein ist zu empfehlen, sowohl die postoperative CT-Bildgebung als auch die ABF mit MAESTRO 9 in die innerklinischen Abläufe zu integrieren als Standardverfahren zu etablieren.
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Referenzen
[1] – Canfarotta, M. W., Dillon, M. T., Buss, E., Pillsbury, H. C., Brown, K. D., & O’Connell, B. P. (2020). Frequency-to-place mismatch: Characterizing variability and the influence on speech perception outcomes in cochlear implant recipients. Ear & Hearing, 41(5), 1349–1361. https://journals.lww.com/ear-hearing/Fulltext/2020/09000/Frequency_to_Place_Mismatch__Characterizing.27.aspx
[2] – Landsberger, D.M., Vermeire, K., Claes, A., Van Rompaey, V., & Van de Heyning, P. (2016). Qualities of single electrode stimulation as a function of rate and place of stimulation with a cochlear implant. Ear & Hearing., 37(3), 149–159. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4844766/
[3] – Li, H., Schart-Moren, N., Rohani, S., A., Ladak, H., M., Rask-Andersen, A., & Agrawal, S. (2020). Synchrotron Radiation-Based Reconstruction of the Human Spiral Ganglion: Implications for Cochlear Implantation. Ear Hear. https://journals.lww.com/ear-hearing/Fulltext/2020/01000/Synchrotron_Radiation_Based_Reconstruction_of_the.18.aspx
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